Das Geheimnis

des Charismas

Tierärztin Tanja Warter

Jedem fällt ein Mensch ein, der es hat, trotzdem kann niemand erklären, was es ist: Charisma. Viele wünschen es sich herbei, besuchen Kurse, bezahlen teure Trainer. Auch, weil es im Geschäftsleben Vorteile bringt.

Wer sich einen neuen Zahnarzt, Frauenarzt oder Tierarzt sucht, für den ist das Charisma der Person ein wichtiges Kriterium. Wir suchen uns Menschen aus, die sympathisch auf uns wirken. Wer Charisma hat, ist deutlich im Vorteil, er erobert leichter das Vertrauen seiner Kunden. Handelt es sich um eine in die Wiege gelegte Gabe oder lässt sich Charisma auch erlernen und so die Ausstrahlung, Anziehung und Überzeugungskraft verbessern? Eine Frage, die noch nicht endgültig geklärt ist.  

Ronald Riggio, Professor für Führungspsychologie am Kravis Leadership Institute in Kalifornien, beschäftigte sich über viele Jahre mit den sozialen Fähigkeiten der Menschen. Er entwickelte einen Katalog mit 90 Fragen, die ihm helfen sollten, den Charisma-Code zu knacken. Über drei ausschlaggebende Komponenten wollte er mehr in Erfahrung bringen: die Expressivität, die für andere am deutlichsten sichtbar ist, die Kontrolle, die jemand über sich selbst hat, und die Sensitivität, die es ermöglicht, schnell tiefe Verbindungen aufzunehmen. Jedem dieser Begriffe wies er eine emotionale und eine soziale Komponente zu. Seiner Theorie folgend gibt es sechs Grundpfeiler, die einen Menschen zu einem Charismatiker machen.

 

Wer mit diesen Eigenschaften gesegnet ist, hat gute Voraussetzungen, charismatisch zu wirken. Allerdings wollen die Attribute auch richtig dosiert sein. Wer seine Expressivität zu sehr in den Mittelpunkt stellt, dafür aber die Sensitivität zu kurz kommen lässt, der erweckt laut Riggio eher den Eindruck, komisch zu sein. 

In Kenntnis dieser Problematik entwickelten Psychologen nach und nach Lernprogramme für mehr Charisma. Einer von ihnen ist der Brite Richard Wiseman von der Hertfordshire University. Er ist überzeugt, dass jeder seine charismatische Wirkung mit Training mindestens verdoppeln kann. Neugierig? Dann probieren Sie beim nächsten Patientenbesitzer diese Tipps von Wiseman: „Stehen Sie aufrecht, aber entspannt. Die Hände haben beim Sprechen nichts im Gesicht verloren. Nehmen Sie eine offene Körperhaltung ein. Lassen Sie die Arme locker hängen und richten Sie die Handflächen nach vorn.“ So weit das Allgemeine. Stellen Sie sich nun vor, Sie sind unter vielen Menschen. Wisemans Ratschläge für den Kontakt mit einer Gruppe: „Gehen Sie viel herum und oft von einem zum anderen – das wirkt enthusiastisch. Beugen Sie den Oberkörper leicht vor und schauen Sie in alle Richtungen, so werden Sie als besonders interessiert wahrgenommen.“ Sie müssen eine Ansprache halten? Professor Wiseman hilft: „Reden Sie klar, flüssig und in zügigem Tempo. Werden Sie gelegentlich langsamer, um die Spannung zu steigern.“ 

„Diese Verhaltenstipps können tatsächlich einiges bringen“, kommentiert die niederösterreichische Psychologin und Wirtschafts- und Kommunikationstrainerin Natalia Ölsböck. „Unsere innere Haltung spiegelt sich in der Körpersprache wider. Wer schlecht gelaunt ist, wird eher gebückt daherkommen. Wenn man sich nun bewusst aufrichtet, kann sich dadurch die eigene Stimmung verbessern, und das wiederum gibt mehr Ausstrahlung.“            

Mit den sechs angeführten Grundpfeilern ist das Geheimnis des Charismas noch lange nicht gelüftet. Für den US-Psychologen Riggio sind sie erst die Spitze des Eisbergs. Als er politische Reden analysierte, stieß er auf eine spannende Besonderheit: In Experimenten wurden Reden großer amerikanischer Politiker umgeschrieben und von freiwilligen Zuhörern bewertet. Ergebnis: Je bildhafter die Sprache, desto stärker reißt sie die Zuhörer gefühlsmäßig mit. Nicht überraschend die detaillierte Textanalyse der Reden: Charismatische Politiker wie Barack Obama verwenden doppelt so viele Metaphern wie nicht charismatische Redner. 

 

Zusätzlich räumt Riggio der Körpersprache wichtige Bedeutung ein. Dabei geht es ihm weniger darum, ob die Arme verschränkt sind, was allgemein als abweisend bewertet wird, oder ob die Haltung aufrecht ist. Vielmehr hat Charisma für ihn mit Mimik zu tun. Menschen, die uns faszinieren, lächeln besonders oft und sie können mit ihrem Gesicht außerordentlich gut Erstaunen, Freude, Interesse oder Nachdenklichkeit kommunizieren. Gleichzeitig spiegeln sie ihr Gegenüber wider, passen sich mit Gesten und Gesichtsausdrücken an den anderen an, ohne vorher strategisch darüber nachgedacht zu haben. Diese Synchronität empfinden wir als sympathisch. 

Basierend auf diesen Erkenntnissen entwickelte Richard Wiseman weitere Tipps für Zweiergespräche: „Geben Sie dem anderen das Gefühl der Wichtigkeit, dass er Ihnen etwas bedeutet, dass Sie seine Anwesenheit genießen. Legen Sie sich ein einzigartiges Lächeln zu, nicken Sie oft, halten Sie Augenkontakt und hören Sie konzentriert zu, was Ihnen erzählt wird.“ Damit sind nach Richard Wiseman die wichtigsten Lerninhalte für eine charismatische Ausstrahlung geschafft. 

„Gerade das Lächeln ist ein wichtiger Punkt“, erläutert Natalia Ölsböck. „Zusammen mit dem geraden Blick in die Augen des Gegenübers verleiht es uns ein selbst­sicheres Auftreten.“ Doch sie warnt gleichzeitig, denn ein Lächeln müsse echt sein. „Mundwinkel, Augen, Muskeln und Fältchen geben uns sehr genau Auskunft darüber. Wer sein Lächeln nur aufsetzt, die Rhetorik nicht in Fleisch und Blut aufnimmt oder seine Verhaltensweisen so stark kontrolliert, dass Humor und Lockerheit abhandenkommen, wird kaum Bewunderer um sich scharen.“

Charisma ist allerdings auch eine Frage der Interpretation der Beobachter. Die Psychologin Maia Young von der Universität Kalifornien machte zu dieser Fragestellung ein wichtiges Experiment. Sie gab den Teilnehmern ihrer Studie unterschiedliche Informationen darüber, wie Menschen mit ihren Projekten erfolgreich wurden. Je weniger die Studierenden darüber wussten, wie viele Stunden harter Arbeit den Weg geprägt hatten, desto mehr außergewöhnliche und charismatische Eigenschaften schrieben sie ihnen zu. Für Maia Young war das der Beweis, dass Charisma mitunter ausschließlich im Kopf des Betrachters entstehen kann und fremden Menschen teilweise regelrecht unterstellt wird.

Ob lernbar oder nicht, Trug oder Realität: Charisma ist noch immer geheimnisvoll und kompliziert. Obwohl Zutaten bekannt sind, kennt die wahre Rezeptur noch niemand.