Kolostrum –

ein Update

Dr. Franz Kritzinger

In der modernen Tier­haltung werden prophy­laktische Maßnahmen noch mehr an Bedeutung gewinnen – bei einem neugeborenen Kalb ist die adäquate Versorgung mit kolostralen Immun­globulinen ein wesentlicher Teil davon.

Die histologische Struktur der bovinen Placenta epi­theliochorialis verhindert einen Übertritt maternaler Immunglobuline in den Fetus. Daher werden Kälber immunologisch ungeschützt geboren und sind von der Versorgung mit protektiven Immunglobulinen (IgG) aus dem Kolostrum und der damit übertragenen ­sogenannten passiven Immunität abhängig. Die Höhe des daraus resultierenden Immunglobulinspiegels im Serum des neonatalen Kalbes entscheidet über die immunologische Kompetenz und das Funktionieren der Immunabwehr. Die Aufgabe des Kolostrums ist die Bereitstellung eines herdenspezifischen Antikörperspektrums in ausreichender Menge im Serum des Kalbes zum Schutz vor den im Stall aktuell vorherrschenden Krankheitserregern. 

Als Untergrenze für einen ausreichenden Immunschutz wird ein Serumspiegel von > 10 g/l IgG gesehen. In Betrieben mit hohem Infektionsdruck werden höhere Spiegel (14 g/l IgG) empfohlen. Bei einem Monitoring zur Einschätzung der Versorgungslage der Kälber wurde in den verschiedenen Betrieben ein Anteil von 40 bis 60 Prozent unterversorgter Tiere gefunden. Eine kolos­trale Unterversorgung bedeutet auf der einen Seite eine Hypogammaglobulinämie mit resultierendem Immundefizit des neugeborenen Kalbes, auf der anderen Seite steht jedoch eine rasche Exposition einer großen Anzahl potenziell pathogener Mikroorganismen. Dies erklärt den überaus hohen Anteil von Krankheitsbildern infektiöser Natur in der frühen Lebensphase der Tiere. Eine Untersuchung der Serumimmunglobulinkonzentration des neugeborenen Kalbes ist eine retrospektive Möglichkeit zur Kontrolle des Kolostrummanagements beim Einzeltier.

Die sich aus unzureichender kolostraler Immunversorgung ergebenden gesundheitlichen Probleme mit hohen Morbiditäts- und Mortalitätsraten verursachen neben wirtschaftlichen und arbeitswirtschaftlichen Problemen wegen fehlender Akzeptanz auch zunehmend gesellschaftliche Probleme. In vielen Bereichen moderner Tierhaltung werden prophylaktische Maßnahmen noch mehr an Bedeutung gewinnen. Die adäquate Versorgung mit kolostralen Immunglobulinen stellt eine der wesentlichsten Prophylaxemaßnahmen im frühen Leben eines neugeborenen Kalbes dar.

Kolostrumbildung

In den letzten Wochen vor der Geburt kommt es im Euter unter hormonellem Einfluss zu einem Transfer von Immunglobulinen (IgG) aus dem Serum in das Euter­lumen. Unter Beteiligung eines Rezeptors mit selektiver Bindung von IgG und anschließendem Transport durch die Gefäßmembranen kommt es zu einer hochgradigen Anreicherung des genannten Immunglobulins im Eutersekret. Diese extrem klebrige und zähe Masse wird als Präkolostrum bezeichnet (BILD 2).

Durch die hormonelle Umstellung mit Beginn der Kalbung kommt es zur Beendigung der Immunglobulinanreicherung, und das hoch konzentrierte Präkolostrum wird durch die unmittelbar vor der Kalbung durch steigende Prolaktinspiegel ausgelöste Milchsynthese verdünnt. Erst so entsteht das bei der Erstmelkung ermolkene Kolostrum. Der durch die Laktogenese zunehmende Verdünnungs­effekt erklärt den nach dem Abmelken des Erstgemelkes im Zweitgemelk markant geringeren Anteil an kolos­trumspezifischen Inhaltsstoffen. Ein frühes Melken unmittelbar nach der Geburt verhindert daher eine durch Verdünnung bedingte Qualitätsabnahme des gewonnenen Erstkolostrums.

Kolostrumqualität

Der Gehalt an Immunglobulinen (IgG) im Erstgemelk der Kuh ist der maßgebliche Faktor für die Qualitätseinstufung des Kolostrums. International hat sich eine Grenze von ≥ 50 mg/ml IgG als Maß für eine gute Kolostrumqualität durchgesetzt. 

Die Kolostrumqualität stellt den größten Einfluss auf die Höhe des Immunglobulinspiegels im Blut des Kalbes dar. Es besteht eine hochsignifikante Korrelation zwischen der Kolostrumqualität und der Höhe des Blutspiegels. Der in der Literatur gefundene hohe Anteil von minderwertigen Kolostrumqualitäten wird in einer Praxisuntersuchung bestätigt. In einer mittels radialer Immundiffusion (RID) durchgeführten Untersuchung im Praxisgebiet der Tierärzte Vöcklamarkt lag der Anteil schlechter Qualitäten bei über 55 Prozent. 

Die Fähigkeit des Kalbes, die kolostralen Immunglobuline intakt zu resorbieren, ist zeitlich begrenzt. Die Absorption der Immunglobuline durch das Darmepithel zeigt einen linearen Abfall von der Geburt bis zum sogenannten Verschluss nach 24 Stunden. In den ersten vier Lebensstunden ist der Immunglobulintransfer durch das Darmepithel maximal. Innerhalb der ersten vier Stunden kann somit bei Verfütterung von zwei Liter Qualitätskolostrum mit einem ausreichenden Immunschutz für das Kalb gerechnet werden.

Es werden unterschiedliche Einflüsse auf die Kolostrumqualität diskutiert. Die Laktationsnummer hat mit leicht zunehmenden Immunglobulinkonzentrationen bei älteren Kühen einen gewissen Einfluss. Weiters kommt es durch Zunahme des Abstandes Kalbung – Melkung zu einer zunehmenden Verdünnung und Qualitätsabnahme des Kolostrums. Weitere Einflüsse werden sehr kontrovers diskutiert.

Kolostrum und Gesundheit

Unter einer Konzentration von 10 mg/ml IgG im Blut des Kalbes kann nicht mehr mit einem ausreichenden Immunschutz gerechnet werden. Es bestehen signifikante Zusammenhänge zwischen dem Immunglobulinspiegel der Kälber und den verschiedenen Krankheitsinzidenzen für Durchfälle, Septikämie (E. coli), frühe Pneumonie, Arthritis oder Omphalitis. Ebenso sind im Falle einer Erkrankung die Verlaufsform und die Intensität der Behandlung vom Immunspiegel abhängig. Vor dem Hintergrund eines Immundefizits müssen andere Prophylaxemaßnahmen hinterfragt werden bzw. sind zum Scheitern verurteilt. Zur Lösung von Bestandproblemen (meist Durchfall) müssen alle Aspekte der Kolostrumversorgung einschließlich der Qualitätsbeurteilung beachtet werden. Erst dann ergeben andere Maßnahmen Sinn.  

Die Qualität des Kolostrums stellt den wesentlichen Einflussfaktor für einen funktionierenden Immunschutz dar. Mit Kolostrum von schlechter Qualität kann kein Schutz für ein Kalb erreicht werden. Auch eine Erhöhung der verabreichten Menge kann nicht zum erhofften Ziel führen, da bei größeren Mengen die Absorptionsrate der Immunglobuline aus dem Darm reduziert wird. Größere Mengen müssten im Stundentakt verfüttert werden, was jedoch unter Praxisbedingungen nicht praktikabel ist.

Methoden der Qualitätsbeurteilung

In der Vergangenheit gab es die Möglichkeit, die Qualität des Kolostrums mittels Kolostrometer (Senkspindel) oder Refraktometer zu beurteilen. Dabei kann aufgrund guter linearer Korrelationen aus der gemessenen Dichte (Kolostrometer) oder dem gemessenen Brechungsindex (Refraktometer) auf den Immunglobulingehalt geschlossen werden. 

Das Kolostrometer (BILD 3) hat eine Skala mit verschiedenen Farbbereichen, sodass je nach Eintauchtiefe an der Skala die Qualitätskategorie abgelesen werden kann. Die Messung ist temperaturabhängig und ist bei 20 °C validiert. Das Refraktometer (BILD 5) misst die Lichtbrechung am Übergang von zwei Medien. Das Ergebnis wird in Prozent Brix abgelesen. Die Methode ist nicht temperaturabhängig. Ab einem Grenzwert von 22 Prozent Brix kann von einer guten Kolostrumqualität gesprochen werden.

Zusätzlich gibt es eine höchst einfache Möglichkeit, die Qualität des Kolostrums mit einem Präzisionsdurchlauftrichter zu bestimmen (BILD 6). Mit dieser Methode wird die Viskosität (Zähflüssigkeit) gemessen, daraus kann wiederum die Kolostrumqualität abgeleitet werden. Mit der signifikanten Korrelation zwischen Viskosität und Immunglobulingehalt konnte nun erstmals eindeutig der positive Zusammenhang zwischen der Dick- bzw. Zähflüssigkeit und der Kolostrumqualität nachgewiesen werden.

Zur Messung wird der neu entwickelte „ColostroCheck“ in das melkfrische Kolostrum (30 °C) eingetaucht und die Zeit bis zum vollständigen Auslaufen des Kolostrums gemessen. Ab einer Durchlaufzeit von 24 Sekunden kann mit einer guten Kolostrumqualität gerechnet werden. Die Messgenauigkeit und die Qualitätskriterien aller drei Messsysteme sind fast identisch. 

Die sich aus der statistischen Bestimmung des besten -Cutpoints aus der berechneten ROC-Kurve (Receiver--Operating-Characteristic-Kurve) ergebende AUC (area under curve) kann als Qualitätsmaß einer Messmethode genutzt werden. In einer Gegenüberstellung sind alle Methoden gleichwertig, d. h., Sensitivität und Spezifität sind auf einem vergleichbaren Niveau. In einer Reihung ist der „ColostroCheck“ dem Kolostrometer leicht überlegen.

MutterkuhImpfung

Durch eine Impfung soll die Bildung spezifischer gegen ein definiertes Agens gerichteter Antikörper provoziert werden. Bis zum Beginn der Immunantwort bedarf es einer Zeit von etwa zwei Wochen. Im Fall der Rota-Corona-Mutterkuhimpfung ist demnach eine Anreicherung ebendieser Antikörper im Kolostrum erwünscht. Die Anreicherung von Immunglobulinen im Euterlumen ist jedoch nicht von der Antikörper-Serumkonzentration im Blut der Kuh, sondern von der Aktivität des für den selektiven Transport der Globuline verantwortlichen Rezeptors abhängig. 

Eine Vakzination beeinflusst daher nicht die Globulin-konzentration und damit die Qualität des Kolostrums, sondern erhöht den Anteil rota-corona-spezifischer Antikörper. Das bedeutet, dass schlechte Kolostrumqualitäten auch von geimpften Kühen keinen entsprechenden Immunschutz gewährleisten können und auf vorrätiges Qualitätskolostrum zurückgegriffen werden sollte. Außerdem ist auf den Zeitbedarf für die Immunantwort der Kuh (zwei Wochen) und den anschließenden Zeitbedarf für den Transfer der Immunglobuline in das Präkolostrum (zwei Wochen) bei den gängigen Impfprogrammen Rücksicht zu nehmen. Boosterungen zwei Wochen vor der Kalbung sind somit als völlig sinnlos zu erachten.

Fazit

Bei Problemen wurde bisher bei der Kolostrumversorgung meist nur nach „Wann“ und „Wie viel“ gefragt, die Qualität des Kolostrums wurde kaum berücksichtigt. Wenn nur Menge und Zeitpunkt passen, nicht aber die Qualität, sind viele Probleme (z. B. Durchfall) nicht in den Griff zu bekommen. Schlechte Kolostrumqualitäten führen zu einer defizitären immunologischen Ausstattung des neugeborenen Kalbes, und den Krankheitserregern stehen Tür und Tor im Körper der Tiere offen. 

Viele Betriebe haben in der Vergangenheit trotz zahl-reicher, zum Teil kostenaufwendiger Maßnahmen (Mutterkuhimpfung, Außenhaltung im Iglu) Enttäuschungen erleben müssen und Probleme nicht beseitigen können. 

Auch Muttertierimpfungen konnten ohne Berücksichtigung der Kolostrumqualität keinen Schutz gegen Durchfall ergeben. Man muss bei Problemen mit jungen Kälbern zuerst an die Kolostrumversorgung und hier vor allem an die Kolostrumqualität denken. Alles andere ist zweitrangig und in den meisten Fällen wirkungslos. 

Wer seine Tiere gesund und leistungsfähig erhalten möchte, muss die Qualität des Kolostrums vor der Verfütterung bestimmen, schlechte Qualitäten erkennen und dann auf gefrorenes Qualitätskolostrum zurückgreifen.

Deshalb ist die Vorratshaltung von qualitativ hoch-wertigem Kolostrum im Gefrierschrank notwendig. Bei Bedarf kann es im Warmwasserbad oder in der Mikrowelle aufgetaut werden. Die Qualitätsbeurteilung des Kolostrums muss Teil der täglichen Arbeitsroutine im landwirtschaftlichen Betrieb werden.